Ein Blog für all das, was beim Recherchieren und Verfassen von Texten eine Fährte auf dem Schreibtisch hinterlässt. Das interessante Detail, das leider die Zeichenzahl sprengt. Das Zitat, das zu viel Kontext braucht. Das Thema, das bei der Recherche nach einem anderen Thema unerwartet auftaucht. Das antiquarische Fundstück, das nirgends reinpasst und doch nicht loslässt. Und vieles, vieles mehr.

Samstag, 12. März 2011

ün irondell ne feh pa lö prengtang

Oder warum die IPA vielleicht doch keine so schlechte Sache ist.

Sprachlehrbücher sind genauso wie Benimmbücher kleine "Zeitfenster". Die Beispielsätze und Dialoge sind vielleicht nicht immer sehr aussagekräftig oder logisch (Ionescos kahle Sängerin lässt grüssen), aber sie vermitteln doch einen Eindruck des Alltags und des Sprachgebrauchs zu ihrer Entstehungszeit.

Der beredte Franzose erschien Ende des 19. Jahrhunderts. Das kleine Büchlein umfasst etwas mehr als 250 Seiten. Aussprache, Grammatik und Konjugationstabellen haben auf den 73 Seiten Platz. Dann folgt auf weiteren 70 Seiten ein Vocabulaire, eingeteilt in verschiedene Lebensbereiche (Mensch, Tierreich, Mineralien und Metalle, Geschirr und Geräte, Stände und Gewerbe, Krieg und Militär etc.). Die "gebräuchlichsten Redensarten im gesellschaftlichen Umgang" nehmen nicht ganz 15 Seiten ein. Am meisten Platz wird aber der "Anleitung zu geselligen Gesprächen" eingeräumt.

"Gesellig" wurde allerdings etwas weiter gefasst, als wir das heute tun würden. Es handelt sich um Beispielsätze für verschiedenste Alltagssituationen wie Gespräche mit dem Schuhmacher, der Waschfrau, dem Schneider, dem Lohnkutscher, dem Geldwechsler, dem Arzt oder für Besuche auf dem Post- oder Telegraphenbureau, dem Polizeibureau und Zollamt. Die wichtigsten Sätze für einen Besuch "in der Restauration oder Café", einer Fahrt "auf der elektrischen Strassenbahn" oder beim Vorsprechen auf dem "Stellenvermittlungsbureau" sind ebenfalls enthalten. 

Zu den Eigenheiten des Büchleins gehört, dass die französische Aussprache ohne phonetisches Alphabet wiedergegeben wird, obwohl Ende des 19. Jahrhunderts solche Systeme bereits entwickelt worden waren. Das Ergebnis ist gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig - vor allem, wenn es in Fraktur-Schrift daherkommt. Deckt man die französischen und deutschen Kolonnen ab und liest nur die Aussprachekolonne, ergibt das ein hübsches linguistisches Quiz:

  1. dommahsch rang sahsch.
  2. woassi ün plattbangd dö bell frähs.
  3. feht moa woahr mengtönang de seschangtiliong de dra feng.
  4. sche l'onnöhr dö boahr a wotre sangte.
  5. wölje sawoar la bongte dö mö dihr kang schö döwre schangsche dö woatühr?
Will heissen:
  1. Dommage rend sage. (Durch Schaden wird man klug.)
  2. Voici une plate-bande de belles fraises. (Hier ist ein Beet mit schönen Erdbeeren.)
  3. Faites-moi voir maintenant des échantillons de drap fin. (Zeigen Sie mir nun Muster von feinem Tuche.)
  4. J'ai l'honneur de boire à votre santé. (Ich habe die Ehre, auf Ihre Gesundheit zu trinken.)
  5. Veuillez avoir la bonté de me dire quand je devrai changer de voiture? (Wären Sie so freundlich, mich wissen zu lassen, wann ich umsteigen soll.)
Der beredte Franzose wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts über 30 Mal neu aufgelegt. Er muss also recht erfolgreich gewesen sein (es gab auch den beredten Engländer, Italiener, Holländer, Portugiesen und Spanier). 
 
Das Vorwort zur Erstausgabe schliesst übrigens mit dem erstaunlichen Satz: "Jedermann weiss übrigens wohl, dass die Franzosen, die selten eine andere Sprache erlernen, weiter nichts verlangen, als dass man sich ihnen verständlich machen kann."
 
Zu Zeitlosigkeit und Akuratesse dieser Aussage möchte ich mich lieber nicht äussern
 
* Der Titel dieses Eintrags wurde zur Jahreszeit passend ausgesucht: Une hirondelle ne fait pas le printemps.