Ein Blog für all das, was beim Recherchieren und Verfassen von Texten eine Fährte auf dem Schreibtisch hinterlässt. Das interessante Detail, das leider die Zeichenzahl sprengt. Das Zitat, das zu viel Kontext braucht. Das Thema, das bei der Recherche nach einem anderen Thema unerwartet auftaucht. Das antiquarische Fundstück, das nirgends reinpasst und doch nicht loslässt. Und vieles, vieles mehr.

Donnerstag, 16. Februar 2012

Helferlein I - Schreiben im Vollbildmus

Via Graphics Fairy


In letzter Zeit habe ich einige Instrumente zum effizienteren Schreiben ausprobiert. Zu diesen Selbstversuchen gibt es nun die "Helferlein" Beiträge.

Für konzentriertes, ablenkungsfreies Schreiben wird oft die Verwundung eines Vollbild-Texteditors empfohlen. Das sind Programme, die nach dem Öffnen keinen Zugang zu anderen Anwendungen gestatten, da sie die Menüleisten ausblenden; Befehle werden über die Tastatur eingegeben. Man ist im Schreib-Modus gefangen und hat sozusagen die Bildschirmentsprechung zum leeren weissen Blatt vor Augen. Der kurze Abstecher ins Internet (nur schnell mal die RSS-Feeds/Twitter/die Inbox abrufen) entfällt bzw. ist nur mit einigem Aufwand möglich, der einem bewusst macht, wie leicht man sich ablenken lässt.

Solche Editoren werden gern als Kinkerlitzchen bezeichnet, die mit ein wenig Selbstdisziplin nicht nötig wären. Ein berechtigter Einwand, allerdings fragt man sich, warum der Versuch, zu mehr Selbstdisziplin zu gelangen, dermassen den Zorn der spartanischen Schreibfraktion erweckt. Der Beliebtheit dieser Anwendungen tut das jedenfalls keinen Abbruch. Für Windows gibt es beispielsweise Dark Room oder WriteMonkey, für Mac den WriteRoom und für Linux den TextRoom (links s. unten).


Nicht geeignet sind diese Programme natürlich dann, wenn man während des Schreibens recherchieren möchte - der schnelle Blick auf Wikipedia & Co. ist eben nicht möglich, ebensowenig der Zugriff auf eigenen Datenbanken und Dateien. Allerdings regt das auch einmal zum Nachdenken an.


Ist es wirklich nicht möglich, einen Text ohne ständigen Zugriff auf andere Texte zu verfassen (Foucault hätte dazu einiges zu sagen)? Ist es wirklich nötig, genau an dieser Stelle zu unterbrechen, nur um beispielsweise ein Datum zu kontrollieren? Könnte man nicht einfach eine Notiz machen und die Recherche später, wenn man den Text zur endgültigen Bearbeitung in ein klassisches Textverarbeitungsprogramm transferiert hat, erledigen? Oder wie wäre es damit, einmal vom Schreibtisch aufzustehen und in einem Buch (!) nachzuschlagen? Und wie wäre es, einfach einmal alle Infos vorab in einem Notizbuch zu sammeln und sich dann erst ans kondensierte Schreiben zu machen? Selbst wenn man mit dem Arbeiten in einem Vollbild-Editor nicht glücklich wird, lohnt es sich doch einmal, diese Erfahrungen zu machen und so die eigene Arbeitsweise zu hinterfragen.


Ich jedenfalls arbeite sehr gerne in diesem Modus. Vor allem dann, wenn es mir schwer fällt, konzentriert zu arbeiten oder in der Anfangsphase eines Projektes, wenn die ersten Sätze einfach nicht kommen wollen. Ich erhalte dann relativ schnell ein brauchbares Textgerüst, dem ich je nach Bedarf in einer anderen Anwendung noch den letzten Schliff verpassen kann.


Nach einigem Umsehen, habe ich mich für Q10 entschieden, weil es verschiedene Schriften und Farben erlaubt und diverse Zusatzfunktionen aufweist wie Statistik, Alarm, Rechtschreibprüfung*, globale Zielsetzung (sehr hilfreich, wenn man ein tägliches Schreib-Soll erfüllen will). Vor allem aber liebe ich Q10, weil man es so einstellen kann, dass es einen wunderbaren Schreibmaschinenton erzeugt, samt "RRR-Ding" beim Betätigen der Zeilenschaltung. Eine kleine Hilfestellung für jene, die nicht (mehr) wissen, wie das klingt:


Das ist nicht nur pure Nostalgie oder Spielerei - es hat etwas ungemein Beruhigendes zu hören, wie der Text wächst und gedeiht. Das Geräusch scheint zudem auch all jene innere Stimmen zu übertönen, die einem sonst beim Schreiben immer wieder zum Innehalten zwingen wollen.

Fazit: Vollbild-Editoren sind nicht geeignet, wenn man beim Schreiben Zugang auf andere Anwendungen braucht. Sie sind aber hervorragende Starthilfen, wenn man mit dem berüchtigten ersten Satz zu kämpfen hat. Sie fördern das konzentrierte Schreiben und retten einem vor den vielen Ablenkungen, die die Arbeit am Bildschirm nun mal bietet. Darüberhinaus bringen sie einen dazu, ausgetreten Schreibpfade mal zu verlassen und   neue Zugänge zum Schreiben zu finden.

Q10
WriteMonkey
Dark Room
WriteRoom
TextRoom


*Deutsches Wörterbuch gibt's hier.

Samstag, 3. September 2011

Schreibpfade: zwei Ratgeber zum Thema "kreatives Schreiben"

via Graphics Fairy


Manchmal will es mit dem Schreiben einfach nicht klappen, man kann sich dann frustriert der Hausarbeit widmen, sich vor die Glotze hauen oder Ratgeber zum Thema lesen – was den Vorteil hat, dass man sich einreden kann, immerhin etwas gegen den Stillstand zu unternehmen. Zwei solcher Ratgeber, die das Problem sehr unterschiedlich angehen, möchte ich hier einmal vorstellen: Julia Camerons Der Weg des Künstlers (The Artist’s Way) und Steven Pressfields Morgen fange ich an – Warum nicht heute? (The War of Art).

Die Originaltitel beider Werke erwecken Assoziationen zur fernöstlichen Philosophie. Es handelt sich nicht um klassische Schreibschulen, die technische Tipps und Tricks liefern. Der kreative Prozess ist das Thema und er wird als spirituelle Erfahrung definiert. Eine Erfahrung, die sich einem aber nicht einfach so erschliesst – deshalb widmen sich Cameron und Pressfield den Stolpersteinen auf dem Pfad kreativen Schaffens. Zielpublikum sind nicht nur jene, die mit einer Schreibblockade kämpfen, sondern alle kreativ Tätigen.

Julia Cameron ist Schriftstellerin und Journalistin (und einiges mehr), am bekanntesten ist sie für ihre Kurse und Bücher zum Thema kreatives Schaffen. Der Weg des Künstlers ist ein Workshop, der recht viel Engagement verlangt: über 12 Wochen jeden Tag eine Stunde (muss man nicht sklavisch befolgen).

Grundlage sind zwei Instrumente: die Morgenseiten und den Künstlertreff. Morgenseiten bezeichnen die Gewohnheit, jeden Morgen drei Seiten von Hand zu schreiben, und zwar nicht zu einem bestimmten Thema oder als Tagebucheintrag. Vielmehr soll man einfach drauflos schreiben und sich von allem befreien, was einem gerade durch den Kopf geht (inkl. "mir fällt nichts ein"). Stil und Grammatik sind Nebensache, Hauptsache es wird geschrieben. Beim Künstlertreff verabredet man sich einmal pro Woche mit sich selbst zu etwas, das Spass macht.
 
Das Buch widmet sich in 12 Lektionen der Freisetzung des kreativen Prozesses, eine Lektion sollte eine Woche dauern, in der etliche Übungen zu erledigen sind. Im Original beginnt jede Kapitelüberschrift mit "Recovering" – gemeint ist die Wiederentdeckung zahlreicher Eigenschaften, welche das kreative Schaffen fördern bzw. freisetzen: Stärke, Integrität, Mitleid etc. Dadurch wird der Pfad zur kreativen Energie, dem Universum oder Gott (Cameron überlässt den Lesenden die endgültige Wahl des Begriffs) geöffnet. Der im Buch am meisten zitierte Autor ist übrigens C.G. Jung.

Ich habe das Programm nicht abgearbeitet, aber die Lektüre war trotzdem interessant, sie macht hellhörig für all die Stimmen, die einen aufhalten und blockieren. Von den beiden Grundinstrumenten habe ich die Morgenseiten ausprobiert und tatsächlich einen positiven Effekt festgestellt: der Kopf wird dadurch entrümpelt und es fällt einfacher, sich danach zu konzentrieren.  Die Methode eignet sich aber auch spontan, wenn man mal irgendwo festgefahren ist: Mit einem Stapel Makulatur-Papier hinsetzen und einfach drauflos schreiben, bis das Problem sich im Schreibfluss auflöst.
 
Als ehemaliger Marine kommt Steven Pressfield aus einer ganz anderen Ecke, das zeichnet sich schon beim Original-Titel ab (The War of Art), der sich an Sunzis Klassiker der Strategie anlehnt (The Art of War). Die deutsche Übersetzung tut dem Leser hier keinen Gefallen; wer eine martialische Sprache nicht sonderlich mag, sollte nämlich von Pressfield die Finger lassen. Seine Spezialität sind historischen Romane, die Kriege der Antike zum Thema haben. Zudem hat er sich in letzter Zeit (auch in seinem Blog) immer wieder dem kreativen Prozess gewidmet.

Pressfields Buch ist kein Workshop, in dem es darum geht, durch Verletzungen geschaffene Blockaden aufzulösen – es handelt sich eher um einen in drei Teile gegliederten Schlachtplan. In Teil 1 identifiziert Pressfield den Feind, eine weitere Referenz auf Sunzi ("Kenne dich selbst und kenne deinen Feind, dann musst du den Ausgang von 100 Schlachten nicht fürchten"). Der Feind, das ist der Widerstand, unter dem Pressfield alles zusammenfasst, was uns innerlich vom kreativen Schaffen abhält. Er lässt keine äusseren Faktoren zu; was sich einem in den Weg stellt, das trägt man letztendlich in sich - Punkt.


Teil zwei ist dem Kampf gegen diesen Widerstand gewidmet. Man muss bereit sein zu leiden, sich vom Amateur-Status zu verabschieden und zum Profi zu werden. Die erste Eigenschaft des Profis ist – und das mag bei Pressfields kriegerischer Sprache überraschen – die Liebe (wer Sparta/Gates of Fire gelesen hat, wird weniger überrascht sein). Die weiteren Eigenschaften bewegen sich dann im erwartet spartanisch-stoischen Rahmen: Geduld, Bescheidenheit, Hingabe, Disziplin etc.


Die Kräfte, die den kreativen Prozess fördern, sind Thema des dritten Teils. Wie schafft man es, diese Kräfte für sich zu gewinnen? Pressfields Affinität zur Antike lässt ihn jene Kräfte personalisieren: Er spricht von der Muse, doch wer das nicht mag, kann auch abstraktere Konzepte bemühen. Wer mit Hingabe und Disziplin ans Werk geht, der lädt die Muse zu sich ein und erhält Zugang zur Quelle aller Kreativität.
 
Beide Bücher haben sehr viel mehr gemein als man meinen möchte. Zuerst einmal – auch das muss gesagt werden – beide können nerven: Cameron mit Wattebauschsprache, Pressfield mit Drill-Sergeant-Ton. Aber sie gehen auch beide unter die Haut: Manche der von Cameron verlangten Übungen haben das Potential, recht schmerzhaft zu sein. Pressfield wirft einem Aussagen an den Kopf, denen man sofort heftig widersprechen möchte, um dann zu realisieren, dass gerade diese Heftigkeit ihm recht gibt. Die grösste Übereinstimmung liegt aber in der Einschätzung kreativen Schaffens: es handelt sich um eine Gabe (Gottes/des Universums/der Muse); wer kreiert, erschafft nicht selbst, sondern ist nur Medium, das sich einer spirituellen Erfahrung geöffnet hat.

Profitiert habe ich von beiden Büchern und wenn es wieder mal hapert, dann suche ich gerne bei Cameron oder Pressfield Rat. Wer wann zu Worte kommt, hängt von der Befindlichkeit ab. Als Fazit würde ich sagen: wenn man nicht genau weiss, woran es liegt, dass man mit dem Manuskript (dem Bild, dem Filmprojekt) nicht vom Fleck kommt, sollte man sich die Zeit für Camerons Workshop nehmen. Hegt man hingegen den Verdacht, die Probleme seien hausgemacht und durch einen inspirierten und ordentlichen Tritt in den Allerwertesten zu lösen, dann ist man mit Pressfield bestens bedient. 

Julia Cameron: Der Weg des Künstlers: Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität, 352 S., Knaur TB 2009.

Steven Pressfield: Morgen fange ich an - warum nicht heute? Überwinden Sie Ihre inneren Widerstände, 175 S., Ariston 2003.

Mittwoch, 10. August 2011

Verkehrstechnischer Sprachunterricht


Und nochmals eine Flohmarkt-Trouvaille, bei der es um das Erlernen von Fremdsprachen geht: "Goldschmidts Bildertafeln für den Unterricht im Deutschen" aus der Reihe "Fremdsprachlicher Unterricht auf Grundlage der Anschauung". Thora Goldschmidt war eine dänische Sprachlehrerin, die Ende des 19. Jahrhunderts damit begann, Sprachlehrbücher mit Bildertafel zu publizieren. Ihre Methode basierte auf visueller Vermittlung von Wissen durch die Bildtafeln und des ausschliesslichen Gebrauchs der Fremdsprache während des Sprachunterrichts. Goldschmidt lehnte das Memorieren der auf den Bildtafeln abgebildeten Begriffen debenso ab wie Erläuterungen des Lehrers in der Muttersprache. Bildtafeln wie beigefügte Texte sollten lediglich als Basis für die Vermittlung der Lehrinhalte dienen.
Gekauft habe ich das Buch, weil die 36 Bildtafeln ungemein unterhaltsam sind und zudem jede Menge Informationen zur Alltags- und Begriffsgeschichte liefern - wer weiss denn heute noch, wie ein "Schuhknöpfer" oder ein "Flederwisch" aussieht oder dass Damen kein "Unterhemd", sondern eine "Untertaille" trugen?
Diese Abbildung stammt aus der vierte Ausgabe von 1920, welche um eben dieses Bild - "Kraftwagen - Luftfahrzeuge" - erweitert wurde.


Das Bild und das dazugehörige Textmaterial geben interessante Einblicke in die Entwicklung verschiedener Termini, liefern aber auch technikgeschichtliche Details.
Man wundert sich vielleicht über den Azetylenapparat (12) - auf dem Trittbrett (11) des Personenkraftwagens (1). Er gehört zur Laterne (19) und beides zusammen bildet eine Karbidlampe, mit welchen die frühen Automobile ausgerüstet waren.
Das landwirtschaftliche Gerät hinten links ist ein Motorpflug (33); weder "Schlepper" noch "Traktor" scheinen damals verwendet worden zu sein. Das "Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilswissenschaften" (hrsg. von Otto Lueger) hilft weiter: "Maschinenpflüge, im engeren Sinne ein durch Maschinen anstatt durch Zugtiere gezogener Pflug, im weiteren Sinne die zur mechanischen Bodenkultur verwendeten Maschinen und Geräte."
Interessant ist auch die Luftschiffhalle (34) im Hintergrund, man möchte meinen, dass der Begriff später von dem modernen "Hangar" abgelöst wurde - aber anscheinend ist die Begriffsgeschichte etwas komplizierter, in Luegers Lexion steht unter Hangar: "Nicht mehr üblicher Ausdruck für Flugzeugschuppen." 
Bei den abgebildeten Fluggeräten fallen vor allem die elegant geschwungenen Tragflächen (46) des Eindeckers (44a) auf. Startet man eine Bildersuche für "Eindecker" wird schon bald klar, dass nur sehr wenige Flugzeugtypen solche Tragflächen aufwiesen. Der Grafiker liess sich eventuell von der Etrich Taube inspirieren.
Den Doppeldecker (44b) überlasse ich den Aeronautik-Spezialisten, aufgefallen im Bildvergleich ist mir aber die Flügelspannweite und die hohe Zahl der Vertikal-Streben (die bestimmt ganz anders heissen), ev. stand eine de Havilland Pate.
Beim Luftschiff (38) handelt es sich laut Begleittext um einen "Zeppelin-Typus", der "mehrere Dutzend Passagiere" befördern könne.

Die Fluggeräte tauchen auf einer weiteren Tafel des Buches zu "Armee - Marine - Aviatik" nochmals auf.


Tatsächlich findet sich hier beim Eindecker (69) die Ergänzung "Taube". Das Zeppelinluftfahrtschiff (35) ist freundlicherweise mit der Bezeichnung "Hansa" versehen; die volle Bezeichnung dieses Luftschiffs war LZ 13 Hansa*. Die beiden Tafeln liefern so ganz nebenbei die Geschichte dieses Modells, das sowohl zivil wie militärisch genutzt wurde. 
Zur militärischen Aviatiktafel gibt es ebenfalls einen Begleittext, in dem technische Details der Luftschiffe diskutiert werde, so auch die verschiedenen Typen: Welches System befolgt Graf Zeppelin? - Das starre; es gibt auch das halbstarre System, nach dem die Schiffe des Majors v. Parseval konstruiert sind.**

Auch im Begleittext zur ersten Tafel nehmen die Luftschiffe eine besondere Rolle ein. Der Text schliesst mit einem Dialog zwischen einem fortschrittsvernarrten Liebhaber des "Autosports" und einem Herrn, der von den neuen Transportmitteln sehr viel weniger begeistert ist. Lediglich die Luftschiffe haben es ihm angetan: Aber sehr gern würde ich einmal mit dem Zeppelin-Luftschiff fahren. Man muss doch da, wenn man so durch die Luft fährt, ohne gleichzeitig sich um das Steuern der Maschine kümmern zu müssen, gewaltige Eindrücke haben. 
Was sein Gegenüber dazu veranlasst, eine abschliessende, korrekte Voraussage über die weitere Entwicklung der zivilen Luftfahrt zu machen: Es wird nicht mehr lange dauern, bis man Gelegenheit haben wird, mit Luftschiffen und grossen Flugzeugen regelmässig zu fahren, und zwar ebensogut und gefahrlos, wie mit der Eisenbahn.

Die 1909 gegründete DELAG (Deutsche Luftschiffahrtsaktiengesellschaft) gilt als die älteste Fluglinie der Welt, doch der Erste Weltkrieg stoppte das Unternehmen in seiner Entwicklung. Die 20er Jahre und frühen 30er Jahre sollten dann zum Goldenen Zeitalter der Zeppeline werden, während gleichzeitig die ersten mit Flugzeugen operierenden Fluggesellschaften gegründet wurden. Nach der Hindenburg-Katastrophe 1937 begann dann endgültig das Zeitalter der Passagierflugzeuge.





* Es gehört zu den Geheimnissen Wikipedias, warum dieser Eintrag nur auf Englisch und Holländisch existiert. 
** Von Parseval konstruierte sowohl halbstarre wie Prallluftschiffe (Blimps), während die von Zeppelin konstruierten Luftschiffe heute als Starrluftschiffe bezeichnet werden.

Montag, 25. April 2011

Bitte recht freundlich - Modegeschichte und Bilddatierung

Historische Photographien reizen stets zum  Spekulieren, Träumen oder auch Geschichten-Erfinden. Sie dienen als Quelle für  wissenschaftliches Arbeiten oder für die Romanrecherche. Doch die Datierung kann recht schwierig werden, sofern man nicht über Hintergrundwissen zur Entwicklung der Photographie verfügt.*

Oftmals verraten aber die Sujets selbst schon viel zur Entstehungszeit, nämlich durch Kleidung und Haartracht. Da die Frauenmode seit dem frühen 19. Jahrhundert grösserem Wandel unterworfen ist als die Männermode, klappt das bei Damenportraits etwas besser. So gibt es einige modehistorische Details, an denen man sich im Allgemeinen ziemlich gut orientieren kann.** 
  
Eine Krinoline etwa weist auf ein recht hohes Alter der Aufnahme hin – grob gesagt Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1875. Abgelöst wurden die Krinolinen von Tournüren (Betonung des Gesässes), die bis kurz vor die Jahrhundertwende die weibliche Silhouette prägte. Apropos Silhouette: Korsetts bzw. deren Schnitt können bei einer groben Datierung ebenfalls helfen. Extrem schmale Taillen und Schnürungen in Kombination mit engen Röcken deuten auf das späte 19. Jahrhundert hin. Diese Wespentaille wird zur Jahrhundertwende langsam von der S-förmigen Silhouette der Belle Epoque abgelöst. Die Hüften werden nach hinten gedrückt, die Brustpartie nach vorne – sehr schön in Filmen wie „A Room with a View“ zu sehen. Das Korsett gerät zu dieser Zeit bereits unter Beschuss der Frauenbewegung (und Mediziner), bleibt aber fast bis zum Ersten Weltkrieg fester Bestandteil der Damenmode. Nach dem Krieg verschwindet es dann - von jeweils kurzen Revivals abgesehen - zugunsten von Hüfthalter und BH. Und dann gibt es da natürlich noch die Rocklänge. Knöchel und Waden tauchen im 20. Jahrhundert(ausser bei Sportkleidung) erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf; danach gibt es aber kein Zurück mehr.

Drei Grazien der Goldenen Zwanziger.
Bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg wird die Gestaltung der Damenmode strenger und während des Krieges verstärkt sich diese Tendenz. Einerseits, weil allzu Verspieltes nicht zu Kriegszeiten passt, andererseits, weil nun viele Frauen ausser Haus arbeiten und nüchtern wirkende Kleidung bevorzugen. Nach dem Krieg setzt sich der Trend zur Geometrie in der Mode weiter fort, die Taille, die bereits während des Krieges nach unten gewandert war, rutscht noch weiter nach unten - es entsteht der Stil der "Roaring Twenties" mit kurzen Röcken und tiefen Taillen, wie man sie auf dem Bild für diesen Eintrag sehr schön erkennen kann: Das Interieur ist zwar Jugendstil, doch Kleidung und Frisuren der drei Damen sprechen deutlich für die (Mitte der) 20er Jahre - stammte das Bild aus dem englischsprachigen Raum, so würde die Bildunterschrift einfach Flappers lauten. In den 30er Jahre wandert die Taille wieder nach oben und durch den Schnitt wird eine extrem gestreckte Silhouette erzeugt: Röcke werden hoch angesetzt und eng geschnitten, um die Illusion möglichst langer Beine zu schaffen. 

Sind nur wenig Details der Kleidung sichtbar, so bleibt noch die Frisur als Anhaltspunkt. Die erste und wichtigste Grundregel ist, dass Frauen vor dem Ersten Weltkrieg (bis auf wenige verruchte Ausnahmen) ihr Haar nicht kurz trugen. Nur junge Mädchen trugen das Haar offen oder in Zöpfen – ansonsten wurde es in zahlreichen Variationen (Chignon, Dutt, Pompadour) nach hinten bzw. nach oben gesteckt.

Zur Zeit der Krinoline trug frau das Haar meist in der Mitte gescheitelt, mit einem tief im Nacken sitzenden Knoten, die Seitenpartien bedeckten die Ohren - für Bälle und andere Gelegenheiten wurde die Frisur schon mal mit falschen Haarteilen ergänzt. So lange der Hut zur Frauenmode gehörte, ergänzten sich Hut- und Frisurenmode. Zur Krinolinenzeit trug Frau eine Haube (Schute, Kapotte), die keine kühnen Hochsteckfrisuren erlaubte. Dann kamen kleine Hüte und Kappen in Mode, die mit einer Hutnadel fixiert werden mussten; Hochsteckfrisuren waren wieder angesagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Hüte geradezu riesig – viele der damaligen Hutmodelle lassen sich heute kaum noch tragen, weil sie eines Unterbaus bzw. einer Hochsteckfrisur bedürfen, die zu kreieren viel Haar und Geschick verlangt. Das Zusammenspiel von Frisur und Hutmode für diese Epoche wird hier minutiös aufgearbeitet. In den 20er Jahren kam der Bob auf, aber er galt als schockierendes Fashion-Statement und ist deshalb etwa auf Aufnahmen aus ländlich-konservativen Gegenden nur selten zu sehen. (Wie skandalös der Bob zu Beginn auch in seinem Heimatland war, zeigt die 1920 erschienene Kurzgeschichte Bernice bobs her Hair von F. Scott Fitzgerald). Zum Bob trug frau einen Topfhut (wie die Dame im Header), der wiederum nur zu kurzem Haar getragen werden konnte. Konservative oder einfach weniger abenteuerlustige Frauen trugen die Haare zwar zumeist kürzer als in der Vorkriegszeit, etwa schulterlang, im Nacken zu einem Knoten geschlungen und am Kopf in Wasserwellen gelegt oder in einer diskreten Variante des Bob mit Wasserwellen, die aussah, als wären die Haare lang und hinten in ein Chignon gesteckt. Wasserwellen blieben auch in den 30er Jahren beliebt, danach wurden sie von der Kalt-Dauerwelle abgelöst (Dauerwellen gab es schon sehr viel länger, das Prozedere war aber aufwendig und bedurfte spezieller Apparate, um die Wickler zu erhitzen). Der Bob verschwand in den 30er Jahren wieder, aber genauso wie das Korsett (nur bequemer) hat er zahlreiche Revivals erlebt. Bei der Datierung von Photos nach der Frisur allein ist Vorsicht geboten. Frisieren ist Gewohnheitssache und viele Frauen blieben gerne bei der bekannten Routine – oftmals der Frisur ihrer Jugendzeit (seien wir ehrlich, daran hat sich nicht so viel geändert). Es geht aber auch umgekehrt - für die Sitzung vor dem Photographen konnte frau sich vielleicht kein neues Kleid leisten, aber der Gang zum Friseur lag noch im Budget. Dann ist die Frisur auf einmal "jünger" als die Kleidung.

Wenn möglich, sollte man also versuchen, ein Bild nicht nur anhand eines einzelnen Details zu datieren, sondern sich an möglichst vielen Einzelheiten zu orientieren. Handelt es sich etwa um ein sorgfältig inszeniertes Studioportrait oder einen Schnappschuss bei der Arbeit oder in der Freizeit? Und wen haben wir da vor uns? Extrem aufwendige Frisur und Kleidung deutet natürlich auf die Oberschicht hin (die auch meistens den neuesten modischen Trends folgt, was die Datierung vereinfacht). Unter- und Mittelschichten kleideten sich zumeist zurückhaltender und modisch neutraler, musste die Kleidung doch länger halten. Doch vielleicht leistete frau sich für die Sitzung beim Photographen auch einmal etwas Neues. Die soziale Schicht der Abgebildeten ist nicht immer einfach zu eruieren, deshalb im Zweifelsfalle auf Hände und Schuhe achten. Auch ein mögliches Stadt-Landgefälle sollte man im Auge behalten. Und dann ist da natürlich immer die unerwartete Trendsetterin aus der Arbeiterschicht und die vornehme ältere Dame, die sich der neuesten Mode partout verweigert. Gruppenfotos sind deshalb einfacher zu datierende Kandidaten als Einzelportraits (wie auf dem Bild oben schön zu erkennen ist). Das Alter der Abgebildeten spielt natürlich auch eine Rolle, ältere Frauen machten nicht mehr alle Moden mit. Traditionsbewusste Frauen etwa trugen die Krinoline noch bis spät ins 19. Jahrhundert hinein, allerdings manchmal in Kombination mit anderen, jüngeren Stücken, die eine Datierung dann wiederum ermöglichen. Frauen, die mit dem oder besser gesagt im) Korsett aufwuchsen, wollten oder konnten der modischen Befreiung aus verschiedensten Gründen nicht folgen -  deshalb findet man auch in später entstandenen Portraits noch Korsettträgerin.

Der langen Rede kurzer Sinn: auch das schlichteste Photoportrait muss für die Datierung aufmerksam studiert werden, einzig und allein nach Details wie Saumhöhe oder Haartracht zu datieren, ist heikel. Das Bild ist wie ein Text zu "lesen" und nach möglichst vielen Aussagen abzusuchen, bevor man sich auf eine Datierung festlegt. 





* Wer es ganz genau wissen will s. Timm Starl "Bildbestimmung, Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839-1945", 2009.

** Wer viel mit historischem Photomaterial arbeitet, sollte sich zumindest eine gute Gesamtdarstellung zum Thema Modegeschichte besorgen, z.B. Gertrud Lehnert: Mode, DuMont Schnellkurs, 2006.

Natürlich gibt es im Internet zahlreiche Sammlungen zur Kostümgeschichte und manche Museen haben auch Bildgalerien ihre Sammlungen on-line. Meine bevorzugte Quelle für Mode wie Frisuren ist La Couturière Parisienne (trotz französischen Titels in deutsch und englisch).

Donnerstag, 14. April 2011

Alternative Fundorte: Vintage-, DIY und Scrapbooking Blogs

Skizze für Blusenstoff, 1906
Für ein paar meiner letzten Schreibprojekte fand ich mich auf einmal auf Recherche-technischen Abwegen. Statt mich in den eingängigen Sammlungen historischer Texte umzutun, landete ich auf einmal auf einer Vielzahl von hauptsächlich englischsprachigen Blogs. Dort hat sich im Gefolge des Scrapbooking-Booms eine ganze Szene entwickelt, die Bildmaterial sammelt, scannt und dann aufs Internet stellt - entweder zum Kauf (vor allem für digitales Scrapbooking) oder auch zur freien Verfügung.

Da oftmals ein nostalgisches Design, ein Retro-Look, angestrebt wird, findet sich eine entsprechende Menge historisches Bildmaterial. Das meiste davon (u.a. natürlich auch wegen den public domain/Gemeinfreiheit-Regelungen) aus dem 19. Jahrhundert und der Belle Epoque. Grundsätzlich wird alles, was irgendwie illustriert war, erfasst und so finden sich nicht nur Texte aus Büchern, sondern auch Werbematerial, Etiketten, Postkarten und vieles, vieles mehr auf diesen Blogs.

Es sind allerdings nicht nur die Scrapbooker, die sich für diese Materialien interessieren. Manche Blogs sind auf alte Handarbeitstechniken spezialisiert, andere wiederum interessieren sich einfach für (auffälligerweise oft weibliche) Alltagsgeschichte.

Cathe Holden etwa präsentiert auf ihrem Blog Just Something I Made Projekte im Vintage-Design, wofür sie gerne historisches Bildmaterial verwendet, das sie auch frei zur Verfügung stellt. Sie hat ein Faible für Werbematerial, Etiketten und ähnliches.

The Graphics Fairy scannt gnadenlos alles, was ihr in die Finger kommt - zumindest macht es den Anschein: Anatomische Zeichnungen, Fotos, Werbematerial, Postkarten und Briefe. An das Blog gekoppelt ist ein on-line Shop mit weiterem Bildmaterial (und der neue Hintergrund dieses Blogs stammt auch von ihr).

A Victorian Passage bietet in erster Linie Material aus dem 19. Jahrhundert an: Kochrezpepte (zum Teil ganze Kochbücher als PDF), Handarbeitsprojekte, landwirtschaftliche Almanache (ebenfalls als PDF), wo man etwa Regeln zum Stallbau oder zur Butterherstellung nachlesen kann.

Vintage Homemaking befasst sich, wie der Name schon andeutet, in erster Linie mit der Haushaltsführung und präsentiert Auszüge aus Handbüchern zu den Themen Hauswirtschaft und Handarbeit. Zu diesem Blog gehört auch ein Shop.

Das ist nur eine kleine Auswahl, aber es lohnt sich auf alle Fälle, dort einmal zu stöbern, nicht nur wegen des Bildmaterials, sondern auch wegen der vielen Quellen zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte, die sich zwischen und hinter all den hübschen Bildern verbergen!

Dass es jetzt nur englische Links sind, sollte nicht abschrecken - das gescannte Material stammt nicht nur aus dem englischsprachigen Raum. Deutschsprachige Blogs mit ähnlicher Ausrichtung kenne ich im Moment keine, aber das heisst nicht, dass es sie nicht gibt - vielleicht taucht ja der eine oder andere Link in den Kommentaren auf.

Samstag, 12. März 2011

ün irondell ne feh pa lö prengtang

Oder warum die IPA vielleicht doch keine so schlechte Sache ist.

Sprachlehrbücher sind genauso wie Benimmbücher kleine "Zeitfenster". Die Beispielsätze und Dialoge sind vielleicht nicht immer sehr aussagekräftig oder logisch (Ionescos kahle Sängerin lässt grüssen), aber sie vermitteln doch einen Eindruck des Alltags und des Sprachgebrauchs zu ihrer Entstehungszeit.

Der beredte Franzose erschien Ende des 19. Jahrhunderts. Das kleine Büchlein umfasst etwas mehr als 250 Seiten. Aussprache, Grammatik und Konjugationstabellen haben auf den 73 Seiten Platz. Dann folgt auf weiteren 70 Seiten ein Vocabulaire, eingeteilt in verschiedene Lebensbereiche (Mensch, Tierreich, Mineralien und Metalle, Geschirr und Geräte, Stände und Gewerbe, Krieg und Militär etc.). Die "gebräuchlichsten Redensarten im gesellschaftlichen Umgang" nehmen nicht ganz 15 Seiten ein. Am meisten Platz wird aber der "Anleitung zu geselligen Gesprächen" eingeräumt.

"Gesellig" wurde allerdings etwas weiter gefasst, als wir das heute tun würden. Es handelt sich um Beispielsätze für verschiedenste Alltagssituationen wie Gespräche mit dem Schuhmacher, der Waschfrau, dem Schneider, dem Lohnkutscher, dem Geldwechsler, dem Arzt oder für Besuche auf dem Post- oder Telegraphenbureau, dem Polizeibureau und Zollamt. Die wichtigsten Sätze für einen Besuch "in der Restauration oder Café", einer Fahrt "auf der elektrischen Strassenbahn" oder beim Vorsprechen auf dem "Stellenvermittlungsbureau" sind ebenfalls enthalten. 

Zu den Eigenheiten des Büchleins gehört, dass die französische Aussprache ohne phonetisches Alphabet wiedergegeben wird, obwohl Ende des 19. Jahrhunderts solche Systeme bereits entwickelt worden waren. Das Ergebnis ist gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig - vor allem, wenn es in Fraktur-Schrift daherkommt. Deckt man die französischen und deutschen Kolonnen ab und liest nur die Aussprachekolonne, ergibt das ein hübsches linguistisches Quiz:

  1. dommahsch rang sahsch.
  2. woassi ün plattbangd dö bell frähs.
  3. feht moa woahr mengtönang de seschangtiliong de dra feng.
  4. sche l'onnöhr dö boahr a wotre sangte.
  5. wölje sawoar la bongte dö mö dihr kang schö döwre schangsche dö woatühr?
Will heissen:
  1. Dommage rend sage. (Durch Schaden wird man klug.)
  2. Voici une plate-bande de belles fraises. (Hier ist ein Beet mit schönen Erdbeeren.)
  3. Faites-moi voir maintenant des échantillons de drap fin. (Zeigen Sie mir nun Muster von feinem Tuche.)
  4. J'ai l'honneur de boire à votre santé. (Ich habe die Ehre, auf Ihre Gesundheit zu trinken.)
  5. Veuillez avoir la bonté de me dire quand je devrai changer de voiture? (Wären Sie so freundlich, mich wissen zu lassen, wann ich umsteigen soll.)
Der beredte Franzose wurde bis Mitte des 20. Jahrhunderts über 30 Mal neu aufgelegt. Er muss also recht erfolgreich gewesen sein (es gab auch den beredten Engländer, Italiener, Holländer, Portugiesen und Spanier). 
 
Das Vorwort zur Erstausgabe schliesst übrigens mit dem erstaunlichen Satz: "Jedermann weiss übrigens wohl, dass die Franzosen, die selten eine andere Sprache erlernen, weiter nichts verlangen, als dass man sich ihnen verständlich machen kann."
 
Zu Zeitlosigkeit und Akuratesse dieser Aussage möchte ich mich lieber nicht äussern
 
* Der Titel dieses Eintrags wurde zur Jahreszeit passend ausgesucht: Une hirondelle ne fait pas le printemps.





Montag, 14. Februar 2011

Zum Valentinstag - Aufforderung zum Tanz

Anstandsbücher sind wahre Fundgruben - egal, ob man die richtige Anrede für adelige Personen sucht oder Feinheiten der Geschlechterbeziehungen recherchiert, man findet dort die Antworten. Ob die oftmals mysteriös anmutenden Regeln auch allen Zeitgenossen bekannt waren, steht hingegen auf einem anderen Blatt. Sicherlich richteten sich vor allem die ausufernden Anstandsbücher des 19. Jahrhunderts eher an die gehobenen Stände. Die darin beschriebenen Rituale und Zeremonien sind dermassen aufwendig, dass sie wohl nur von Leuten mit viel Musse erlernt und befolgt werden konnten. Das Beherrschen dieses Regelwerks war damit auch ein Standesmerkmal.

Wie sehr sich dieses Regelwerk innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums verändern konnte, lässt sich anhand eines zum Datum passenden Themas gut verfolgen - nämlich der Aufforderung zum Tanz bzw. den verschiedenen Regeln, die bei Tanzveranstaltungen zu beachten sind.

J.v. Wedells Werk "Wie soll ich mich benehmen?" aus dem späten 19. Jahrhundert befasst sich in sage und schreibe drei Kapiteln (über 50 Seiten!) mit Abendgesellschaften, Tanzveranstaltungen,Tänzen und Tanzordnungen. Im Kapitel "Im Tanzsaal" werden all die faux pas, welche sich bei dieser Gelegenheit begehen lassen, minutiös aufgelistet: Herren, die nur herumstehen und nicht zum Tanz bitten (hallo, Mr Darcy); Damen, die sich selbst einem Herrn vorstellen; mit einer Dame mehr als einen Tanz hintereinander tanzen; beim Tanzen die Tanzfläche versperren; bei der Damenwahl einen Herrn holen, dem frau noch nicht vorgestellt wurde; einen versprochenen Tanz vergessen und natürlich die Schlimmste aller Sünden: einem Herrn einen Tanz verweigern und dann mit einem anderen tanzen! Das sind bei weitem nicht alle Regeln, sondern nur die wichtigsten!

In "Darf ich mir erlauben" von Hans Martin sieht das alles schon ganz anders aus. Das Büchlein ist nicht so umfangreich wie von Wedells und Themen werden allgemein ökonomischer abgehandelt. Das genaue Erscheinungsdatum konnte ich nicht eruieren, aber die Illustrationen und die Tatsache, dass Muterbriefe oft mit "Mit deutschem Gruss" unterzeichnet sind, deuten auf die späten 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hin. Das Buch wendet sich an den gehobenen Mittelstand (das wird aus den ausführlichen Auflistungen der nötigen Garderobe klar). Unter dem Titel: "Es wird getanzt - Auf Bällen und in öffentlichen Lokalen" wird die Aufforderung zum Tanz kurz und bündig abehandelt:

"Hast Du die Absicht, mit einer Dir fremden Dame, die an einem anderen Tisch in Herrengesellschaft sitzt, zu tanzen, so frage den neben ihr sitzenden Herrn: 'Gestatten Sie, dass ich mit der Dame tanze?' (ohne dass Du Dich vorstellst). Nach dem Tanz führst Du die Dame zu ihrem Platz zurück, bedankst Dich bei ihr ('Danke sehr!' genügt) und verbeugst Dich gegen die Herren. Die Dame hat nicht die mindeste moralische Verpflichtung, mit Dir zu tanzen. Es ist daher auch keine Beleidigung, wenn sie den Tanz mit Dir dankend ablehnt."

Der kurze Abschnitt endet mit der Aufforderung, sich im Übrigen an das zu erinnern, was einem der Tanzlehrer beigebracht habe.
 
Die Anstandsdamen, in v. Wedells Text allgegenwärtig, sind verschwunden, eine (unverheiratete) Frau darf in Herrengesellschaft ausgehen. Ebenfalls verschwunden sind die Tanzkarte sowie die Regel, dass nur eine Dame, der man bereits vorgestellt wurde, zum Tanz aufgefordert werden kann. Und die Dame kann einen Tanz ohne Grund ablehnen - bei v. Wedell darf dies nur unter dem Vorwand der Müdigkeit geschehen.

Eine Erklärung für diese z.T. doch drastischen Veränderungen der Etikette stellt wohl der grosse gesellschaftliche Wandel dar, der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und dem viele der alten Regeln zum Opfer fielen.

Übrigens gelten zumindest bei Anlässen mit strenger Etikette immer noch etliche Regeln für die Aufforderung zum Tanz. Und einem Herrn einen Tanz zu verweigern und dann mit einem anderen zu tanzen, wird auch im 2008 erschienen Knigge noch als äusserst schlimmer Fehltritt aufgelistet.

(Die Volltextversion von J. v. Wedells "Wie soll ich mich benehmen" kann man bei Zeno nachlesen. Das Bild stammt ebenfalls aus "Wie soll ich mich benehmen?")