Anstandsbücher sind wahre Fundgruben - egal, ob man die richtige Anrede für adelige Personen sucht oder Feinheiten der Geschlechterbeziehungen recherchiert, man findet dort die Antworten. Ob die oftmals mysteriös anmutenden Regeln auch allen Zeitgenossen bekannt waren, steht hingegen auf einem anderen Blatt. Sicherlich richteten sich vor allem die ausufernden Anstandsbücher des 19. Jahrhunderts eher an die gehobenen Stände. Die darin beschriebenen Rituale und Zeremonien sind dermassen aufwendig, dass sie wohl nur von Leuten mit viel Musse erlernt und befolgt werden konnten. Das Beherrschen dieses Regelwerks war damit auch ein Standesmerkmal.
Wie sehr sich dieses Regelwerk innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums verändern konnte, lässt sich anhand eines zum Datum passenden Themas gut verfolgen - nämlich der Aufforderung zum Tanz bzw. den verschiedenen Regeln, die bei Tanzveranstaltungen zu beachten sind.
J.v. Wedells Werk "Wie soll ich mich benehmen?" aus dem späten 19. Jahrhundert befasst sich in sage und schreibe drei Kapiteln (über 50 Seiten!) mit Abendgesellschaften, Tanzveranstaltungen,Tänzen und Tanzordnungen. Im Kapitel "Im Tanzsaal" werden all die faux pas, welche sich bei dieser Gelegenheit begehen lassen, minutiös aufgelistet: Herren, die nur herumstehen und nicht zum Tanz bitten (hallo, Mr Darcy); Damen, die sich selbst einem Herrn vorstellen; mit einer Dame mehr als einen Tanz hintereinander tanzen; beim Tanzen die Tanzfläche versperren; bei der Damenwahl einen Herrn holen, dem frau noch nicht vorgestellt wurde; einen versprochenen Tanz vergessen und natürlich die Schlimmste aller Sünden: einem Herrn einen Tanz verweigern und dann mit einem anderen tanzen! Das sind bei weitem nicht alle Regeln, sondern nur die wichtigsten!
In "Darf ich mir erlauben" von Hans Martin sieht das alles schon ganz anders aus. Das Büchlein ist nicht so umfangreich wie von Wedells und Themen werden allgemein ökonomischer abgehandelt. Das genaue Erscheinungsdatum konnte ich nicht eruieren, aber die Illustrationen und die Tatsache, dass Muterbriefe oft mit "Mit deutschem Gruss" unterzeichnet sind, deuten auf die späten 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hin. Das Buch wendet sich an den gehobenen Mittelstand (das wird aus den ausführlichen Auflistungen der nötigen Garderobe klar). Unter dem Titel: "Es wird getanzt - Auf Bällen und in öffentlichen Lokalen" wird die Aufforderung zum Tanz kurz und bündig abehandelt:
"Hast Du die Absicht, mit einer Dir fremden Dame, die an einem anderen Tisch in Herrengesellschaft sitzt, zu tanzen, so frage den neben ihr sitzenden Herrn: 'Gestatten Sie, dass ich mit der Dame tanze?' (ohne dass Du Dich vorstellst). Nach dem Tanz führst Du die Dame zu ihrem Platz zurück, bedankst Dich bei ihr ('Danke sehr!' genügt) und verbeugst Dich gegen die Herren. Die Dame hat nicht die mindeste moralische Verpflichtung, mit Dir zu tanzen. Es ist daher auch keine Beleidigung, wenn sie den Tanz mit Dir dankend ablehnt."
Der kurze Abschnitt endet mit der Aufforderung, sich im Übrigen an das zu erinnern, was einem der Tanzlehrer beigebracht habe.
Die Anstandsdamen, in v. Wedells Text allgegenwärtig, sind verschwunden, eine (unverheiratete) Frau darf in Herrengesellschaft ausgehen. Ebenfalls verschwunden sind die Tanzkarte sowie die Regel, dass nur eine Dame, der man bereits vorgestellt wurde, zum Tanz aufgefordert werden kann. Und die Dame kann einen Tanz ohne Grund ablehnen - bei v. Wedell darf dies nur unter dem Vorwand der Müdigkeit geschehen.
Eine Erklärung für diese z.T. doch drastischen Veränderungen der Etikette stellt wohl der grosse gesellschaftliche Wandel dar, der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und dem viele der alten Regeln zum Opfer fielen.
Eine Erklärung für diese z.T. doch drastischen Veränderungen der Etikette stellt wohl der grosse gesellschaftliche Wandel dar, der nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte und dem viele der alten Regeln zum Opfer fielen.
Übrigens gelten zumindest bei Anlässen mit strenger Etikette immer noch etliche Regeln für die Aufforderung zum Tanz. Und einem Herrn einen Tanz zu verweigern und dann mit einem anderen zu tanzen, wird auch im 2008 erschienen Knigge noch als äusserst schlimmer Fehltritt aufgelistet.
(Die Volltextversion von J. v. Wedells "Wie soll ich mich benehmen" kann man bei Zeno nachlesen. Das Bild stammt ebenfalls aus "Wie soll ich mich benehmen?")
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen