Ein Blog für all das, was beim Recherchieren und Verfassen von Texten eine Fährte auf dem Schreibtisch hinterlässt. Das interessante Detail, das leider die Zeichenzahl sprengt. Das Zitat, das zu viel Kontext braucht. Das Thema, das bei der Recherche nach einem anderen Thema unerwartet auftaucht. Das antiquarische Fundstück, das nirgends reinpasst und doch nicht loslässt. Und vieles, vieles mehr.

Montag, 25. April 2011

Bitte recht freundlich - Modegeschichte und Bilddatierung

Historische Photographien reizen stets zum  Spekulieren, Träumen oder auch Geschichten-Erfinden. Sie dienen als Quelle für  wissenschaftliches Arbeiten oder für die Romanrecherche. Doch die Datierung kann recht schwierig werden, sofern man nicht über Hintergrundwissen zur Entwicklung der Photographie verfügt.*

Oftmals verraten aber die Sujets selbst schon viel zur Entstehungszeit, nämlich durch Kleidung und Haartracht. Da die Frauenmode seit dem frühen 19. Jahrhundert grösserem Wandel unterworfen ist als die Männermode, klappt das bei Damenportraits etwas besser. So gibt es einige modehistorische Details, an denen man sich im Allgemeinen ziemlich gut orientieren kann.** 
  
Eine Krinoline etwa weist auf ein recht hohes Alter der Aufnahme hin – grob gesagt Mitte des 19. Jahrhunderts bis ca. 1875. Abgelöst wurden die Krinolinen von Tournüren (Betonung des Gesässes), die bis kurz vor die Jahrhundertwende die weibliche Silhouette prägte. Apropos Silhouette: Korsetts bzw. deren Schnitt können bei einer groben Datierung ebenfalls helfen. Extrem schmale Taillen und Schnürungen in Kombination mit engen Röcken deuten auf das späte 19. Jahrhundert hin. Diese Wespentaille wird zur Jahrhundertwende langsam von der S-förmigen Silhouette der Belle Epoque abgelöst. Die Hüften werden nach hinten gedrückt, die Brustpartie nach vorne – sehr schön in Filmen wie „A Room with a View“ zu sehen. Das Korsett gerät zu dieser Zeit bereits unter Beschuss der Frauenbewegung (und Mediziner), bleibt aber fast bis zum Ersten Weltkrieg fester Bestandteil der Damenmode. Nach dem Krieg verschwindet es dann - von jeweils kurzen Revivals abgesehen - zugunsten von Hüfthalter und BH. Und dann gibt es da natürlich noch die Rocklänge. Knöchel und Waden tauchen im 20. Jahrhundert(ausser bei Sportkleidung) erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf; danach gibt es aber kein Zurück mehr.

Drei Grazien der Goldenen Zwanziger.
Bereits kurz vor dem Ersten Weltkrieg wird die Gestaltung der Damenmode strenger und während des Krieges verstärkt sich diese Tendenz. Einerseits, weil allzu Verspieltes nicht zu Kriegszeiten passt, andererseits, weil nun viele Frauen ausser Haus arbeiten und nüchtern wirkende Kleidung bevorzugen. Nach dem Krieg setzt sich der Trend zur Geometrie in der Mode weiter fort, die Taille, die bereits während des Krieges nach unten gewandert war, rutscht noch weiter nach unten - es entsteht der Stil der "Roaring Twenties" mit kurzen Röcken und tiefen Taillen, wie man sie auf dem Bild für diesen Eintrag sehr schön erkennen kann: Das Interieur ist zwar Jugendstil, doch Kleidung und Frisuren der drei Damen sprechen deutlich für die (Mitte der) 20er Jahre - stammte das Bild aus dem englischsprachigen Raum, so würde die Bildunterschrift einfach Flappers lauten. In den 30er Jahre wandert die Taille wieder nach oben und durch den Schnitt wird eine extrem gestreckte Silhouette erzeugt: Röcke werden hoch angesetzt und eng geschnitten, um die Illusion möglichst langer Beine zu schaffen. 

Sind nur wenig Details der Kleidung sichtbar, so bleibt noch die Frisur als Anhaltspunkt. Die erste und wichtigste Grundregel ist, dass Frauen vor dem Ersten Weltkrieg (bis auf wenige verruchte Ausnahmen) ihr Haar nicht kurz trugen. Nur junge Mädchen trugen das Haar offen oder in Zöpfen – ansonsten wurde es in zahlreichen Variationen (Chignon, Dutt, Pompadour) nach hinten bzw. nach oben gesteckt.

Zur Zeit der Krinoline trug frau das Haar meist in der Mitte gescheitelt, mit einem tief im Nacken sitzenden Knoten, die Seitenpartien bedeckten die Ohren - für Bälle und andere Gelegenheiten wurde die Frisur schon mal mit falschen Haarteilen ergänzt. So lange der Hut zur Frauenmode gehörte, ergänzten sich Hut- und Frisurenmode. Zur Krinolinenzeit trug Frau eine Haube (Schute, Kapotte), die keine kühnen Hochsteckfrisuren erlaubte. Dann kamen kleine Hüte und Kappen in Mode, die mit einer Hutnadel fixiert werden mussten; Hochsteckfrisuren waren wieder angesagt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Hüte geradezu riesig – viele der damaligen Hutmodelle lassen sich heute kaum noch tragen, weil sie eines Unterbaus bzw. einer Hochsteckfrisur bedürfen, die zu kreieren viel Haar und Geschick verlangt. Das Zusammenspiel von Frisur und Hutmode für diese Epoche wird hier minutiös aufgearbeitet. In den 20er Jahren kam der Bob auf, aber er galt als schockierendes Fashion-Statement und ist deshalb etwa auf Aufnahmen aus ländlich-konservativen Gegenden nur selten zu sehen. (Wie skandalös der Bob zu Beginn auch in seinem Heimatland war, zeigt die 1920 erschienene Kurzgeschichte Bernice bobs her Hair von F. Scott Fitzgerald). Zum Bob trug frau einen Topfhut (wie die Dame im Header), der wiederum nur zu kurzem Haar getragen werden konnte. Konservative oder einfach weniger abenteuerlustige Frauen trugen die Haare zwar zumeist kürzer als in der Vorkriegszeit, etwa schulterlang, im Nacken zu einem Knoten geschlungen und am Kopf in Wasserwellen gelegt oder in einer diskreten Variante des Bob mit Wasserwellen, die aussah, als wären die Haare lang und hinten in ein Chignon gesteckt. Wasserwellen blieben auch in den 30er Jahren beliebt, danach wurden sie von der Kalt-Dauerwelle abgelöst (Dauerwellen gab es schon sehr viel länger, das Prozedere war aber aufwendig und bedurfte spezieller Apparate, um die Wickler zu erhitzen). Der Bob verschwand in den 30er Jahren wieder, aber genauso wie das Korsett (nur bequemer) hat er zahlreiche Revivals erlebt. Bei der Datierung von Photos nach der Frisur allein ist Vorsicht geboten. Frisieren ist Gewohnheitssache und viele Frauen blieben gerne bei der bekannten Routine – oftmals der Frisur ihrer Jugendzeit (seien wir ehrlich, daran hat sich nicht so viel geändert). Es geht aber auch umgekehrt - für die Sitzung vor dem Photographen konnte frau sich vielleicht kein neues Kleid leisten, aber der Gang zum Friseur lag noch im Budget. Dann ist die Frisur auf einmal "jünger" als die Kleidung.

Wenn möglich, sollte man also versuchen, ein Bild nicht nur anhand eines einzelnen Details zu datieren, sondern sich an möglichst vielen Einzelheiten zu orientieren. Handelt es sich etwa um ein sorgfältig inszeniertes Studioportrait oder einen Schnappschuss bei der Arbeit oder in der Freizeit? Und wen haben wir da vor uns? Extrem aufwendige Frisur und Kleidung deutet natürlich auf die Oberschicht hin (die auch meistens den neuesten modischen Trends folgt, was die Datierung vereinfacht). Unter- und Mittelschichten kleideten sich zumeist zurückhaltender und modisch neutraler, musste die Kleidung doch länger halten. Doch vielleicht leistete frau sich für die Sitzung beim Photographen auch einmal etwas Neues. Die soziale Schicht der Abgebildeten ist nicht immer einfach zu eruieren, deshalb im Zweifelsfalle auf Hände und Schuhe achten. Auch ein mögliches Stadt-Landgefälle sollte man im Auge behalten. Und dann ist da natürlich immer die unerwartete Trendsetterin aus der Arbeiterschicht und die vornehme ältere Dame, die sich der neuesten Mode partout verweigert. Gruppenfotos sind deshalb einfacher zu datierende Kandidaten als Einzelportraits (wie auf dem Bild oben schön zu erkennen ist). Das Alter der Abgebildeten spielt natürlich auch eine Rolle, ältere Frauen machten nicht mehr alle Moden mit. Traditionsbewusste Frauen etwa trugen die Krinoline noch bis spät ins 19. Jahrhundert hinein, allerdings manchmal in Kombination mit anderen, jüngeren Stücken, die eine Datierung dann wiederum ermöglichen. Frauen, die mit dem oder besser gesagt im) Korsett aufwuchsen, wollten oder konnten der modischen Befreiung aus verschiedensten Gründen nicht folgen -  deshalb findet man auch in später entstandenen Portraits noch Korsettträgerin.

Der langen Rede kurzer Sinn: auch das schlichteste Photoportrait muss für die Datierung aufmerksam studiert werden, einzig und allein nach Details wie Saumhöhe oder Haartracht zu datieren, ist heikel. Das Bild ist wie ein Text zu "lesen" und nach möglichst vielen Aussagen abzusuchen, bevor man sich auf eine Datierung festlegt. 





* Wer es ganz genau wissen will s. Timm Starl "Bildbestimmung, Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839-1945", 2009.

** Wer viel mit historischem Photomaterial arbeitet, sollte sich zumindest eine gute Gesamtdarstellung zum Thema Modegeschichte besorgen, z.B. Gertrud Lehnert: Mode, DuMont Schnellkurs, 2006.

Natürlich gibt es im Internet zahlreiche Sammlungen zur Kostümgeschichte und manche Museen haben auch Bildgalerien ihre Sammlungen on-line. Meine bevorzugte Quelle für Mode wie Frisuren ist La Couturière Parisienne (trotz französischen Titels in deutsch und englisch).

Donnerstag, 14. April 2011

Alternative Fundorte: Vintage-, DIY und Scrapbooking Blogs

Skizze für Blusenstoff, 1906
Für ein paar meiner letzten Schreibprojekte fand ich mich auf einmal auf Recherche-technischen Abwegen. Statt mich in den eingängigen Sammlungen historischer Texte umzutun, landete ich auf einmal auf einer Vielzahl von hauptsächlich englischsprachigen Blogs. Dort hat sich im Gefolge des Scrapbooking-Booms eine ganze Szene entwickelt, die Bildmaterial sammelt, scannt und dann aufs Internet stellt - entweder zum Kauf (vor allem für digitales Scrapbooking) oder auch zur freien Verfügung.

Da oftmals ein nostalgisches Design, ein Retro-Look, angestrebt wird, findet sich eine entsprechende Menge historisches Bildmaterial. Das meiste davon (u.a. natürlich auch wegen den public domain/Gemeinfreiheit-Regelungen) aus dem 19. Jahrhundert und der Belle Epoque. Grundsätzlich wird alles, was irgendwie illustriert war, erfasst und so finden sich nicht nur Texte aus Büchern, sondern auch Werbematerial, Etiketten, Postkarten und vieles, vieles mehr auf diesen Blogs.

Es sind allerdings nicht nur die Scrapbooker, die sich für diese Materialien interessieren. Manche Blogs sind auf alte Handarbeitstechniken spezialisiert, andere wiederum interessieren sich einfach für (auffälligerweise oft weibliche) Alltagsgeschichte.

Cathe Holden etwa präsentiert auf ihrem Blog Just Something I Made Projekte im Vintage-Design, wofür sie gerne historisches Bildmaterial verwendet, das sie auch frei zur Verfügung stellt. Sie hat ein Faible für Werbematerial, Etiketten und ähnliches.

The Graphics Fairy scannt gnadenlos alles, was ihr in die Finger kommt - zumindest macht es den Anschein: Anatomische Zeichnungen, Fotos, Werbematerial, Postkarten und Briefe. An das Blog gekoppelt ist ein on-line Shop mit weiterem Bildmaterial (und der neue Hintergrund dieses Blogs stammt auch von ihr).

A Victorian Passage bietet in erster Linie Material aus dem 19. Jahrhundert an: Kochrezpepte (zum Teil ganze Kochbücher als PDF), Handarbeitsprojekte, landwirtschaftliche Almanache (ebenfalls als PDF), wo man etwa Regeln zum Stallbau oder zur Butterherstellung nachlesen kann.

Vintage Homemaking befasst sich, wie der Name schon andeutet, in erster Linie mit der Haushaltsführung und präsentiert Auszüge aus Handbüchern zu den Themen Hauswirtschaft und Handarbeit. Zu diesem Blog gehört auch ein Shop.

Das ist nur eine kleine Auswahl, aber es lohnt sich auf alle Fälle, dort einmal zu stöbern, nicht nur wegen des Bildmaterials, sondern auch wegen der vielen Quellen zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte, die sich zwischen und hinter all den hübschen Bildern verbergen!

Dass es jetzt nur englische Links sind, sollte nicht abschrecken - das gescannte Material stammt nicht nur aus dem englischsprachigen Raum. Deutschsprachige Blogs mit ähnlicher Ausrichtung kenne ich im Moment keine, aber das heisst nicht, dass es sie nicht gibt - vielleicht taucht ja der eine oder andere Link in den Kommentaren auf.